Eisiger Tod im heissen Sonnenglück
Überdurchschnittlich viel Schnee deckte die Gletscher im Frühjahr 2024 ein.
Geblieben ist der Schnee aber nur kurz, denn die lange sonnige Periode schmolz den Schnee schnell – typisch für das Wetter der Zukunft.

Eisiger Tod im heissen Sonnenglück
Überdurchschnittlich viel Schnee deckte die Gletscher im Frühjahr 2024 ein. Geblieben ist der Schnee aber nur kurz, denn die lange sonnige Periode schmolz den Schnee schnell – typisch für das Wetter der Zukunft.

Was bedeutet mir diese Geschichte?
Schwer fassbare Dinge, wie den Klimawandel, greifbar machen, ist für mich eine befriedigende Challenge im Journalismus. Über die kleine Verschnaufpause für die Gletscher freute ich mich 2024: Meine letzte Skitour war Ende Mai.
«Ice Ice Baby» – davon träumen vermutlich die meisten Schweizer und Schweizerinnen in heissen Sommerwochen. Dann tröpfelt es von Bürostühlen und Badetüchern und während der letzte Rest Glace im Mundwinkel stört, überzieht ein klebriger Gedanke das späte Sommerglück: Der Klimawandel ist spürbar und mit jedem Sonnenstrahl schmilzt ein Eiskristall in den Bergen. Doch bevor sich die Laune trübt, keimt Hoffnung auf. Das bisschen Sonne dieses Jahr wird ja wohl nicht so schlimm sein für die Gletscher?
Eine nicht ganz unberechtigte Hoffnung, wie der Glaziologe Matthias Huss von der ETH Zürich bestätigt: «Die Voraussetzungen für die Gletscher waren dieses Jahr sehr gut. In den hohen Lagen gab es sehr viel Schnee und der Frühsommer blieb bis Ende Juni recht kühl.»
Im späten April traf kalte und feuchte Polarluft auf den Alpennordhang und so baute sich eine beachtliche Schneedecke für die Jahreszeit auf: In Engelberg lagen 30 und auf dem Urnerboden sogar noch 68 Zentimeter Schnee.
Der Winterbericht des Schweizerischen Gletschermessnetzes (Glamos) gibt an, dass auf den Gletschern im Durchschnitt 30 Prozent mehr Winterschnee lagen, als es im Schnitt der Jahre 2010 bis 2020 der Fall war.
60 Prozent mehr Schnee
Der grösste Urner Gletscher, der Hüfifirn, dürfte wohl zu den Gletschern gehören, die mit am stärksten von den Schneefällen profitierten. Zwar gibt es dort keine Messdaten, doch auf dem benachbarten Claridenfirn sammelten sich 60 Prozent mehr Schnee an als im Durchschnitt von 2010 bis 2020. «Der Claridenfirn und der benachbarte Hüfifirn liegen zwar recht tief, doch sie profitieren in der Regel von viel Niederschlag in der Gegend», erklärt Matthias Huss das bemerkenswerte Ergebnis.
Und auch der Titlis-Gletscher in Obwalden hüllte sich in einen besonders dicken weissen Mantel, wie Urs Egli, Mediensprecher der Titlis-Bergbahnen, bestätigt: «Unser Pisten- und Rettungschef hat diesen Winter beobachtet, dass Anfang Mai einige Meter mehr lagen als in den Jahren zuvor.»
Ein guter Winter also für die Gletscher, besonders weil der diesjährige «Schneesegen» auf die zwei dramatischsten Jahre der Schweizer Gletschergeschichte folgt. «Die letzten zwei Jahre waren wirklich Extreme, die wir so statistisch nicht erwartet hatten», betont Matthias Huss.
Verlustreiche Jahre 2022 und 2023
Allein in den Jahren 2022 und 2023 verloren die Schweizer Gletscher rund 10 Prozent ihres Volumens. Dieser starke Schwund zeigt sich auch in den Daten des Urner St.Annafirns, ebenso wie in denen des Glarner Claridenfirns: Sie verloren in dieser Zeit so schnell so viel Eis wie nie zuvor seit Beginn der Messungen – über 5 Meter an Eisdicke. Das entspricht ungefähr der Menge, die sie zuvor in den sechs Jahren seit 2015 verloren hatten.
Doch bedeutet der schneereiche Winter auch, dass die Gletscher nun nach zwei verlustreichen Jahren aufatmen können? Besteht die Möglichkeit auf ein Jahr ohne Eisverlust oder vielleicht sogar mit einem kleinen Eisgewinn?
«Tatsächlich wurde in diesen Tagen der ‹Nullpunkt› des Schweizer Gletscherjahres erreicht – alles, was nun schmilzt, wird zum Schrumpfen des Gletschers führen», verkündet Matthias Huss. Denn die wochenlang andauernde Schönwetterperiode habe den Schneevorsprung dieses Frühjahrs erstaunlich schnell aufgebraucht.
Steigende Temperaturen und wenig Schnee im Sommer
Matthias Huss erklärt: «Dabei ist es nicht so wichtig, ob die Temperaturen im Tal 30 oder 35 Grad erreichen. Wichtig für die Gletscher wären Schlechtwettertage im Sommer, die in den hohen Lagen Schnee bringen können. Ein solcher Neuschneefall im Sommer würde enorm helfen, um das Schrumpfen wenige Tage aufzuhalten, doch leider gibt es das heute nicht mehr so oft wie früher.»
Damit ist dieses Jahr beispielhaft für den Wettertrend, der durch Klimamodelle vorausgesagt wird. Laut dem Klimaszenario CH2018 des Schweizer National Centre for Climate Services wird es in Zukunft mehr Niederschlag im Winter und weniger Niederschlag im Sommer bei immer wärmeren Temperaturen geben.
Dieser Trend zeigt sich auch in den Daten der Wetterstation in Andermatt Gütsch. Kurz: Das künftige «Mehr» an Winterschnee wird die Gletscher also nicht retten können, da es die warmen, niederschlagsarmen Sommer nicht überstehen kann.
Wie viel dieses Jahr noch wegschmelzen wird, kann Matthias Huss nicht sagen, denn «das hängt stark davon ab, wie sich der Sommer noch entwickelt». Neben der schlechten Nachricht – dass es kein Nullsummenspiel wird – gibt es aber auch eine gute: «Es wird nicht so extreme Verluste geben wie in den vorangegangenen zwei Jahren», versichert Huss.
Ganze Sommer müssten ausfallen
Eine Verschnaufpause für den Titlis-Gletscher meint auch Urs Egli zu beobachten: «Es hat aktuell weniger Blankeis als 2022 und 2023 zu dieser Jahreszeit.» Lukas Eggimann, Leiter der Abteilung Naturgefahren des Forstamts des Kantons Uri, ist gespannt auf die Messresultate von diesem Herbst. Das Forstamt misst für die ETH bereits seit rund 100 Jahren bei sieben ausgewählten Urner Gletschern die Längenänderungen. «Eine Verschnaufpause wäre den Gletschern sehr zu gönnen», meint Eggimann.
Doch was ist so eine kleine Verschnaufpause wert? «Eigentlich hat es sehr wenig Bedeutung. Die Gesamtbilanz der letzten zehn Jahre ist sehr schlecht. Das aufzuholen, steht ausser Frage – dafür müssten ganze Sommer ausfallen», ordnet der Wissenschaftler Matthias Huss ein.
Mit Ende des Gletscherjahres Ende September werden die Massenbilanzen veröffentlicht werden – mit ein wenig «Wetterpech» werden die Gletscher vielleicht noch Glück im Unglück dieses Jahr haben.
