Das Rütlischiessen ist auch ohne Schuss ein Fest
2024 fiel beim Rütlischiessen wegen dichten Nebels kein einziger Schuss. Trotz Enttäuschung bei Neulingen wie Claudia Triulzi, herrschte eine fröhliche Feststimmung, die zeigt, dass es hier um weit mehr als nur das Schiessen geht.

Das Rütlischiessen ist auch ohne Schuss ein Fest
2024 fiel beim Rütlischiessen wegen dichten Nebels kein einziger Schuss. Trotz Enttäuschung bei Neulingen wie Claudia Triulzi, herrschte eine fröhliche Feststimmung, die zeigt, dass es hier um weit mehr als nur das Schiessen geht.

Was bedeutet mir diese Geschichte?
Beim Rütlischiessen ist für mich vieles kulminiert, was ich in meinem ersten Jahr als Journalistin in der Urschweiz gelernt und erfahren habe. Denn alle Artikel, auch die, bei denen ich anfangs dachte «Puh» waren ein Gewinn für mich. Und so war es auch beim Rütlischiessen, das mich – trotz grosser Fremdheit gegenüber dem Schützentum – dank vieler schöner menschlicher Begegnungen verzauberte.
Das erste Mal Rütlischiessen sollte es werden – für die Autorin dieses Textes und die Schützin Claudia Triulzi aus Schattdorf. Am Ende kam alles anders als gedacht. Am 6. November 2024 fiel kein einziger Schuss, nicht von Claudia Triulzi und auch von keinem der anderen Schützen und Schützinnen.
Gab es 2024 also kein Rütlischiessen? Doch, meint die Autorin dieses Textes, das Rütlischiessen ist auch ohne Schuss der Event, der es sein sollte. Ob das nun die unqualifizierte Meinung eines Rütli-Neulings ist? Lassen wir den Tag Revue passieren.
Um 5.40 Uhr gleitet ein schwer beladenes Schiff über den Urnersee: Waffen, Rucksäcke und freudige Schützen und Schützinnen schippern der Rütliwiese entgegen. Dunkel und nebelig ist es, und die 28-jährige Claudia Triulzi erzählt zu dieser frühen Stunde noch etwas zurückhaltend von ihrem Hobby: «Schiessen gehört für mich mittlerweile zum Familienleben dazu. Mein Vater ist Präsident der Schützengemeinschaft Silenen und meine Mutter und Schwester schiessen auch.» Vor acht Jahren trat sie in den Schützenverein ein, in diesem Jahr wurde sie Mitglied der Urner Rütlisektion.
Während ihr Vater, Remo Triulzi, noch rund fünf Jahre auf der Warteliste bis zu seiner ersten Teilnahme am Rütlischiessen im Jahr 2000 stand, kann Claudia Triulzi dieses Jahr direkt mitschiessen. Zu verdanken hat sie das alteingesessenen Mitgliedern, die in diesem Jahr ihren Schiessplatz freiwillig aufgaben, um Jüngeren die erstmalige Teilnahme zu ermöglichen. Damit ist sie eine von 96 Urnern und insgesamt 1008 Schützen und Schützinnen des 161. Rütlischiessens.
Männerschlangen vor der Toilette
Und eine von sehr wenigen Frauen in dieser Welt. Das Rütlischiessen ist wohl einer der wenigen Orte, an denen Männer länger als Frauen vor der Toilette warten. Wie das für sie ist? «Es fühlt sich gar nicht seltsam an. Niemand schaut blöd und alle sind sehr hilfsbereit», berichtet sie und fügt an: «Es gibt auch immer mehr junge Frauen.» Claudia Triulzi taucht heute erstmals in eine sehr alteingesessene Welt ein.
«In den letzten 50 Jahren hat sich praktisch nichts verändert», berichtet Max Baumann. Er sitzt vor der 100-Jahr-Jubiläumsschrift seiner Schützengesellschaft Spiringen, in der viele Fotos von Männern mit Filzhüten zu sehen sind, geschmückt mit 15 Beeren eines Stechpalmzweigs – symbolisch für 15 Schüsse – und ihren Gewehren. Einzig die Kleider haben sich verändert: vom Anzug über die Lederjacke bis zum Softshell. Max Baumann weiss dann doch noch zwei Veränderungen: «Die Waffen wurden besser und heute wird deutlich weniger getrunken. In den 1970er-Jahren waren hier viele schon sehr besoffen. Die Zeiten haben sich geändert, man fährt halt auch nicht mehr betrunken Auto.»
So wie in jedem vorherigen Jahrzehnt muss die Rütlischützengemeinschaft vor dem ersten Kaffee-Schnaps jedoch erst einmal vom Bootssteg durch die Dunkelheit auf die Rütliwiese stapfen. Ein paar Smartphones erleuchten den Weg, und auch wenn Claudia Triulzi meint, sie sei nicht aufgeregt, merkt man doch die Spannung darauf, was dieser Tag bringen mag.
Ihr erster Programmpunkt um 8 Uhr: das Notieren der erzielten Punkte während der ersten Ablösung – also der ersten 48 Schützen und Schützinnen. 5 Minuten stehen einem jedem für die 15 Schüsse zu. Nach je drei, sechs und sechs Schüssen werden die Ergebnisse verkündet. Dafür ist unter anderem Erich Planzer, Präsident der Urner Schiesskommission, zuständig. Mit dem Fernglas schaut er auf die Schiessscheiben und die Freiwilligen, die mit ihren Kellen per Farbe und Bewegung anzeigen, wer wo wie viele Punkte auf seiner Scheibe erzielt hat.
Dazu gibt es auch ein Erklärblatt, das Claudia Triulzi gerade anschaut, und nun merkt man ihr die Anspannung vor ihrem ersten Schiessen an: «Das hätten sie uns ja auch schon vorher so zeigen können.» Doch nur wenig später ist klar: Den Kellen-Punktetanz wird es dieses Jahr für sie nicht geben, denn anstatt auf 48 Schiessscheiben blicken die Schützen auf eine Nebelsuppe.
Seit 1972 das erste Jahr ohne Kellen-Punktetanz

Claudia Triulzi ist enttäuscht: «Scheisse. Es wäre so besonders gewesen, die Stimmung zu erleben und hier mitzumachen.» Dann erzählt sie, dass sie neben dem Training der letzten zwei Monate sogar zur Hypnose ging, um ihre Nervosität in den Griff zu bekommen: «Heute war ich richtig ruhig. Ich glaube, es wäre nicht so schlecht gegangen. Letzte Woche erzielte ich in Silenen 76 von 90 Punkten.» So wie ihr geht es wohl vielen Schützen und Schützinnen heute.
Die Absage ist ein historischer Moment, den es so bisher erst einmal im Jahr 1972 gab. Für OK-Präsident Daniel Epp war es zwar ein trauriger, aber kein schwerer Entscheid: «Es ist so deutlich gewesen, dass es heute einfach nicht geht.» Für das gesamte OK-Team bedeutet das nun auch, dass die Arbeit nicht vorbei ist. In den nächsten Wochen wird jede Rütlisektion ein Schiessen bei sich veranstalten. Die beliebten Sektionsbecher können dann gewonnen werden, während die Preise der Gesamtwertung, Meisterbecher und Bundesgabe, nicht mehr vergeben werden: «Dafür muss man schon auf dem Rütli schiessen», meint Daniel Epp.
«Ähnlich wie in Indien»
Am Rütlibecher zeigt sich, dass die Veranstaltung mehr ist als ein Schiesswettbewerb. Denn den Becher gewinnt nicht etwa der oder die Beste, sondern die Person, die am meisten Punkte erzielte, aber noch keinen Becher im Regal hat. Damit ist die Philosophie der Veranstaltung zutiefst gemeinschaftlich. Eine Eigenheit des Schiesssports, wie die Anekdote von Walter Kempf der Sektion Spiringen verdeutlicht: «Während Corona durften wir ins Training, aber nicht ins Restaurant – aber so war das nichts für mich.» Und Josef Ruoss, der schon Weltmeistertitel gewann, zitiert das Sprichwort: «Kommen Sie in den Schiessverein und treffen Sie Freunde.»
Und so geht das Rütlischiessen trotz Absage munter weiter. Unter den Schützenfremden ist die Stimmung unter den Heizern und Köchen bereits seit 4 Uhr vergnügt. Beim Frühstück der «chef ordinaire» bei Brot mit Ochsenmark, Knobli und Salz wird darüber gesprochen, wie speziell es ist, für 1400 Personen in den alten Töpfen auf Feuer zu kochen, das sei ähnlich wie in Indien.
Claudia Triulzi und ihr Partner Thomas Müller schlendern von Sektion zu Sektion und geniessen den Apéro, den alle gemeinschaftlich teilen: hier ein paar Marroni, dort eine Zuger Kirschtorte, Schabziger-Sandwich oder einfach Brot mit Käse. Auf dem Streifzug durch die Gemeinschaft tönt es von hier und dort immer wieder: «Warst du schon im Berner Zelt?»
Denn die Berner sind die Einzigen, die nicht jeden zum Apéro einladen, sondern lediglich befreundete und alte Sektionen, wie der Zeltobmann Beat Kräutiger erklärt. Damit haben sie sich einen Sonderstatus verschafft, der offenbar fasziniert. Doch was ohne Eintritt von aussen magisch wirkt, ist innen zwar gemütlich warm, aber letztendlich ein Apéro wie die anderen auch.

Essen und Geschichten teilen
Im Gegensatz zur Berner Apéro-Philosophie bereiten die Frauen der kanadischen Gastsektion Schüsselchen mit Lachs und Wildreis für alle vor, denn: «Wenn man Essen teilt, teilt man Geschichten.» Sie sind zum dritten Mal mit dabei. Eine Schützin des Vereins bestätigt dann die Schweizer Selbstwahrnehmung, dass das Rütlischiessen etwas ganz Besonderes ist: «In Kanada sind die Leute neidisch, wenn sie hören, dass wir hierhin fahren.»
Schiessen kann man überall. Das Rütlischiessen gibt es nur einmal. Und so mag auf den ersten Blick das auszeichnende Merkmal des Treffens das historische Schiessen auf den Knien auf unebenem Boden bei Wind und Wetter sein, doch der Kern ist letztendlich ein anderer: Über tausend Schützen kommen hier zusammen, trinken Kaffee-Schnaps und Wein, lachen und essen gemeinsam und wanken dann mit ihren Gewehren nach Hause. Und ob nun jemand einem das Schussergebnis versaut, weil er auf die falsche Scheibe schiesst, oder das gesamte Schiessen abgesagt wird, so bleibt die Einstellung doch dieselbe, ganz nach dem Motto: «Es ist, wie es ist, weiter geht’s.»
OK-Präsident Daniel Epp zeigt sich von dieser ungebrochenen guten Stimmung gerührt: «Darin zeigt sich, dass der freundeidgenössische Gedanke hier wirklich lebt.»
Umhüllt vom Nebel fühlt sich die Rütliwiese an wie eine kleine heile Insel der Gemeinschaftlichkeit. Und so hat die Eidgenossenschaft die Autorin überzeugt: Das Rütlischiessen ist viel mehr als Schiessen. Deshalb gibt es auch ein Rütlischiessen ohne Schiessen.