«Frauen pushen sich gegenseitig»:
Eine Urnerin über das Führen am Berg und die Frauenrolle in dieser Männerdomäne

Karin Isaksson Zgraggen liebt am Bergsteigen das gemeinschaftliche Erleben. Dabei packt sie sich immer wieder selbst an der Nase, um sich mit Männern beim Führen gleichberechtigt abzuwechseln.

«Frauen pushen sich gegenseitig»:
Eine Urnerin über das Führen am Berg und die Frauenrolle in dieser Männerdomäne

Karin Isaksson Zgraggen liebt am Bergsteigen das gemeinschaftliche Erleben. Dabei packt sie sich immer wieder selbst an der Nase, um sich mit Männern beim Führen gleichberechtigt abzuwechseln.

Was bedeutet mir diese Geschichte?

Immer auf der Suche nach Abenteuern entdecke ich selbst gerne die Bergwelt und auch ich muss mich immer wieder „an der Nase packen“. So habe ich beim Bergsteigen schon vieles gelernt, dass mich über Gipfel hinaus bis nach Zürich begleitet. Und so glaube ich, dass auch die Leser und Leserinnen, von Karin Isaksson Zgraggens Blickwinkel profitieren können.

In den Bergen muss man vieles unter einen Hut bringen: Angst und Freude, Freiheit und Kontrolle, Respekt und Selbstvertrauen. In der Schweiz führen am Berg nur sehr wenige Frauen. Die Urnerin Karin Isaksson Zgraggen gehört seit diesem Jahr zu den 3 Prozent der hiesigen Bergführerinnen.

Wie süchtig sind Sie nach den Bergen?

Karin Isaksson Zgraggen: Süchtig? Ich weiss nicht. Letzten Sommer konnte ich wegen eines Bänderrisses acht Monate nicht in die Berge. Ich musste, also durfte dann viel Rennvelo fahren, und da bin ich auch zufrieden gewesen, wenn ich müde und mit Hunger von meinen Runden kam. Glücklicherweise kann ich mich schnell für viel begeistern. Aber natürlich habe ich die Berge vermisst. Mich ungehindert auf Felswänden und Gletschern zu bewegen – Orte, die für den Menschen unerreichbar scheinen –, ist ein Privileg.

Ist es dieses Erreichen des «Unerreichbaren», das für Sie die Faszination des Bergsteigens ausmacht?

Eine schwierige Frage. Einerseits ist es sicherlich der Aspekt, die Landschaft zu entdecken. Andererseits lernt man über den Bergsport so viele Leute kennen. Letztens war ein 60-jähriger Bergführer recht spontan für zwei Nächte bei mir zu Besuch. Wir kannten uns vorher nicht wirklich, aber verbrachten tolle Klettertage und kochten. Man ist einfach mega schnell miteinander verbunden – egal welches Alter und welchen Hintergrund man hat. Und ich glaube, gerade als Frau ist das vielleicht noch ein wenig ausgeprägter.

Wieso als Frau?

Es gibt einfach noch nicht so viele Bergführerinnen, und so sind die Anfragen manchmal ein bisschen spezieller. Da ist mein Mann, der ebenfalls Bergführer ist, auch schon ein wenig erstaunt gewesen. Letztens hat mich eine amerikanische Organisation als Führerin für einen Kletterkurs speziell für Frauen in den Calanques in Frankreich engagiert. Die anderen Führerinnen kamen von überall her aus Polen, Spanien, Grossbritannien… Das sind dann ganz tolle Erfahrungen für mich. Es fasziniert mich, weil man in den Bergen recht schnell alle möglichen Menschen recht nah kennenlernt.

Ist es dieses gemeinschaftliche Erleben, das Sie dazu motiviert hat, von der Bergsteigerin zur Bergführerin zu werden?

Mir persönlich hat das Bergsteigen geholfen, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, als ich mit 27 nach Schweden gezogen bin. Die Schweden sind den Schweizern ähnlich: Kaffee trinken geht man nicht einfach so, aber wenn man klettern und zelten will, dann ist es irgendwie nicht komisch, zu fragen.

Beim Führen sind Sie aber nicht mit Freunden, sondern mit Fremden unterwegs. Ist es trotzdem das Soziale, das Sie motiviert?

Ich glaube, für den Beruf ist es unerlässlich, Menschen einfach gern zu haben. Logisch, es braucht ein gewisses sportliches Niveau, aber das ist der Grundstock. Denn führe ich, damit ich selbst die Route mache? Wohl eher nicht. Als Führerin bleibe ich ja immer unter meinem Niveau. Ich führe einerseits, weil ich Gäste auf Touren mitnehme, die sie alleine nicht machen wollen und andererseits weil ich selbst neugierig darauf bin, Leute kennen zu lernen.

Im Hinblick auf diesen sozialen Aspekt: Denken Sie der Bergsport verändert sich, wenn mehr Frauen in den Bergen führen?

Nein, denn ich glaube nicht, dass Männer weniger sozial kompetent sind. Das ist etwas, das geschlechtsunabhängig sehr individuell ist. Ich war anfangs auch skeptisch, Kurse nur für Frauen zu geben. Ich bin zwar immer gerne mit Freundinnen in die Berge – und das war dann auch speziell –, aber die Männer so ausschliessen muss man ja auch nicht.

Was ist denn speziell daran, nur mit Frauen zu gehen?

In Gruppen entsteht dann schnell eine andere Stimmung. Wenn ich zum Beispiel auf einer Skitour frage, wer spuren möchte, findet sich immer ein Mann, der vorprescht. In reinen Frauengruppen gibt es das vielleicht auch, aber schnell wird dann rotiert und oftmals pushen sich Frauen gegenseitig. Es ist dann die Erste, die der Zurückhaltenderen sagt: «Trau dich, du kannst das auch.»

Männer preschen also eher vor. Wenn Frauen mit Männern in die Berge gehen, gehen sie dann eher mit, als selbst zu führen?

Ja. Und ich glaube, das hat tiefe kulturelle Gründe, und es ist ganz wichtig zu sagen, dass das von beiden Seiten kommt. Ich merke das ja auch. Ich muss mich immer wieder an der Nase packen und mich zwingen, nicht in diese Verhaltensweise zu fallen. Aber ich habe ein sehr gutes Umfeld gehabt. Meine Gruppe in der Ausbildung, ich sage immer «my guys», die waren extrem fördernd und haben es immer sehr lässig gefunden, dass ich als Frau mit dabei bin.

Die Urnerin schloss ihre Ausbildung im Mai beim schwedischen Bergführer-Verband ab. Gemäss den Regeln der internationalen Bergführer-Vereinigung musste sie vor dem Start der Ausbildung eine umfassende Liste an Bergtouren, die sich aus Sommer- und Winterhochtouren, Fels- und Eisklettern zusammensetzen, einreichen. Die Ausbildung dauert in der Regel drei bis vier Jahre.
Nun kehrt Karin Isaksson Zgraggen (37) nach zehn Jahren in Schweden in ihre Heimat zurück und wurde im November in den Urner Bergführer-Verein aufgenommen. Vor ihrer Arbeit als Bergführerin war sie jahrelang im Marketing von Sport- und Outdoor-Produkten tätig.

In der Schweiz sind nur 3 Prozent der Bergführer weiblich.Was müsste sich ändern, damit mehr Frauen diesen Weg wählen?

Tja, das ist eine Diskussion, die ich mit Kollegen schon x-mal geführt habe. Mein persönliches Gefühl ist, dass es an der Struktur liegt. In nahezu allen Ländern bekommt man vor der Ausbildung eine lange Liste mit allen Anforderungen auf einmal. Klettern, Eisklettern, Skifahren … Vielleicht ist das vielen Frauen zu viel, denn ich merke, dass Frauen sich oft unterschätzen. In den USA ist die Ausbildung peu à peu aufgebaut. Und da gibt es einen deutlich grösseren Anteil an Bergführerinnen als in Europa.

Wie fühlte sich diese herausfordernde Ausbildung denn für Sie an?

Davor habe ich lange gedacht, ich habe diese Liste sowieso gar nicht zusammen, und merkte dann: «Mol, das habe ich schon.» Und dann nahm ich lange jeden Ausbildungsteil nach dem Motto «mal schauen». Dass es echt klappen könnte, habe ich erst spät realisiert. Mir hat es aber sicher geholfen, dass ich nicht so ängstlich bin. Ich erinnere mich an eine der ersten Touren mit meinem Mann am Lagginhorn Südgrat im Walliser Saastal. Er fühlte sich verantwortlich für mich und fand es den Horror. Aber ich fand es mega, so voll ausgesetzt. Ich dachte, das ist das Beste, das es gibt.

Und wie ist das heute mit der Angst?

Ich glaube, alle haben Angst, sonst wäre es ja komisch. Aber es gibt verschiedene Formen der Angst: Ist es Respekt, ein ungutes Gefühl oder Panik? Wenn die Anspannung kommt, ist es das Beste, in die volle Konzentration zu gehen. Statt Panik zuzulassen, in den Tunnel der totalen Fokussierung zu kommen, in dem ich die volle Kontrolle habe und mich zum Beispiel nur auf den nächsten Bohrhaken konzentriere. Wenn du es in diesen «state of mind» schaffst, dann ist das recht cool. Das hat mit einem gewissen Selbstvertrauen zu tun, ein bisschen wie beim ungesicherten Solo-Klettern. Manchmal, und das klingt jetzt ein bisschen arrogant, muss man auch denken: «Das kann ich jetzt einfach.»

Was ist für Sie am unangenehmsten beim Bergsteigen?

Schon der Druck vom Wetter. Ein Gewitter hat niemand gern, und da muss man einfach eine gute Marge einbauen.

Und wenn ab jetzt nur noch die Sonne scheinen würde?

(Lacht.) Schlechtes Wetter gehört dazu. Das muss sein und das ist ein Teil von der Natur, vom Spiel.

Uri oder Schweden?

Mein Mann ist Schwede, und eigentlich wollten wir damals nur für wenige Jahre nach Stockholm – schlussendlich sind es jetzt zehn geworden, weil es uns sehr gut gefallen hat. Zum Führen sind wir aber viel in der Schweiz gewesen. Man muss halt schon sehen, die Berge hier sind einfach wie ein grosser Spielplatz. Uri ist so zentral, wenn das Wetter schlecht ist, kann man schnell nach Italien zum Klettern – und für Pasta und Wein! Und Familie und Freunde habe ich natürlich auch hier.

Hat sich in den zehn Jahren etwas in Uri verändert?

Ich habe den Eindruck, die Berggemeinschaft ist noch offener geworden. Ein Mann freute sich letztens total, endlich auch mal von einer Frau geführt zu werden. Aber eigentlich mag ich das gar nicht so stark thematisieren. Es ist wie beim Klettern. Ich bin nur 1,57 Meter gross und manchmal ist ein Zug weit und deshalb schwierig für mich. Mich darüber zu beschweren, ändert aber nichts. Für mich geht es um die eigene Haltung. Ich sehe das Positive und so habe ich auch den Eindruck, dass mir durchweg positiv und unterstützend begegnet wird. Dieses Jahr war ich das erste Mal an der Generalversammlung der Urner Bergführer, und es war so ein netter Abend!

Noch im Jahr 1978 gab es Bedenken, Frauen in den SAC aufzunehmen, aus Angst, dass das eheliche Konflikte befeuern könnte. Sie führen heute mit ihrem Ehemann, der ebenfalls Bergführer ist. Wie ist da die Stimmung?

Mein Mann hat mich ja ein bisschen angestupst, die Ausbildung zu machen, weil er meinte, es wäre ja mega cool, zusammen zu führen. Diesen Winter werden wir beide je eine Gruppe auf der Urner Haute Route von Realp über das Sustenhorn und den Grassen nach Engelberg führen. Das gemeinsam zu machen, ist ein echter Luxus. Es ist nicht selbstverständlich, so ein Interesse miteinander zu teilen. Wir können uns aufeinander verlassen. Wenn ich müde bin, steigt er vor, wenn er müde ist, steige ich vor.