Im blinden Vertrauen atemlos rasen

Die blinde Skirennfahrerin Judith Wegmann nimmt im Team mit Kurt Fedier an den Special Olympics teil.

Ein Training mit dem besonderen Duo hinterlässt einen tiefgreifenden Eindruck: Sie scheinen sich in- und auswendig zu kennen, vertrauen einander und schätzen sich.

Sie erinnern an eine alte Binsenweisheit: Spass ist der Schlüssel zum Erfolg.

Im blinden Vertrauen atemlos rasen

Die blinde Skirennfahrerin Judith Wegmann nimmt im Team mit Kurt Fedier an den Special Olympics teil. Ein Training mit dem besonderen Duo hinterlässt einen tiefgreifenden Eindruck: Sie scheinen sich in- und auswendig zu kennen, vertrauen einander und schätzen sich. Sie erinnern an eine alte Binsenweisheit: Spass ist der Schlüssel zum Erfolg.

Was bedeutet mir diese Geschichte?

Ein Tag mit diesem besonderen Team ist Balsam für die Seele! Voll im Moment, immer einen frechen Spruch auf den Lippen und mit grosser Herzlichkeit rissen mich Judith Wegmann und Kurt Fedier in ihre Welt. So schade, dass die Speical Olympics nicht im Fernsehen übertragen werden, denn es ist sehr bereichernd, zu erleben, wie eine Sportlerin ihre Leidenschaft trotz Widrigkeiten verfolgt.

Alles ist weiss, der Blick findet keinen Halt im nebligen Wetter, die Schneeflocken klatschen an die Skibrille und dann ist da plötzlich dieser Schneehaufen, kurz danach wird es steil und dann ist die Piste eisig – auf all das reagieren die Skifahrer-Beine in Sekundenbruchteilen. Und so flucht Kurt Fedier: «Ich sehe gar nichts» und fügt mit einem Augenzwinkern an: «Jetzt hat Judith einen Vorteil.» Denn Judith Wegmann fährt immer Ski, ohne etwas zu sehen. Sie ist blind. Nun lacht sie auf und kontert: «Ja, ich habe schon gemerkt, dass du nichts siehst, du fährst schlechter als sonst.»

Judith Wegmann und Kurt Fedier trainieren heute in Airolo, weil sie sich auf die «Special Olympics World Winter Games» in Turin vorbereiten. Dort werden sie vom 8. bis zum 15. März im Slalom, Riesenslalom und Super-G um die Wette fahren. Dieses Ziel vor Augen hält sie momentan kein Schnee von der Piste fern.

Kurt Fedier betont: «Normalerweise sind wir Schönwetterfahrer, wir nehmen es lieber gemütlich.» Gemütlich heisst bei den beiden aber nicht, dass es auf der Piste einen Plausch gibt. Kaum oben angekommen, scheint es Fedier in den Beinen zu kribbeln: «Also los, auf geht’s», meint er jedes Mal, wenn Judith Wegmann in munterer Erzähllaune ist. Und auch sie ist hoch motiviert: «Können wir es dieses Mal noch schneller versuchen?» Dann geht es sofort rasant hinab.

Judith Wegmann wedelt in perfekter Linie hinter Kurt Fedier die Piste hinab, indem sie nach Gehör fährt. Kurt Fedier hat einen Lautsprecher am Rücken montiert, aus dem seine Kommandos tönen. Liegen, so wie heute, bei schlechter Sicht Schneehaufen auf der Piste, macht es die Synchronie ein bisschen schwerer. Judith Wegmann bemerkt das sofort: «Ich war versetzt», dabei waren sie nur um rund 10 Zentimeter nicht auf einer Linie. Diese Perfektion haben sie auch erreicht, weil Fediers Stimme irgendwann zu heiser für Kommandos wurde.

Sie übten dann zur Abwechslung, mit Musik zu fahren, was sich als Erfolgskonzept herausstellte. Gemeinsam düsen sie mit italienischen Schlagern oder – wie Kurt Fedier es am liebsten hat – «Atemlos» mit Helene Fischer hinab. «Seitdem höre ich viel besser und jetzt ist es auch nicht mehr so schlimm, wenn Kurt rechts und links verwechselt», meint Wegmann. Im Rennen bestätigt sie ihm nach jeder Kurve mit einem «Ja», «JA» oder «Jaaaa», dass und wie sehr alles für sie in Ordnung ist.

Gefunden haben sich die Tessinerin Wegmann, 45, und der Urner Fedier vor rund sieben Jahren, weil sein Göttibub sie eine Zeit lang trainiert hatte. «Ich war lange JO-Leiter und hatte das eigentlich pausiert, aber die Idee, mit Judith zu fahren, hat mein Rennfieber wieder geweckt und das fand ich schön», erklärt der 56-Jährige seine Motivation für das ehrenamtliche Engagement. Und nun in der Vorbereitung auf die Special Olympics lernt er auch selbst Neues: «Ich wusste vorher gar nicht, wie das geht mit Videokonferenzen.»

Selbstbestimmt schnell sein

Die Special Olympics sind entstanden, um einen Wettbewerb zu schaffen, der – im Gegensatz zu den bekannteren Paralympics – Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen inkludiert und nicht nur physisch beeinträchtigte Menschen.

Um teilnehmen zu können, mussten die beiden erst kandidieren und dann zwei Rennen fahren, die dann das Komitee ansah, das die Schweizer Delegation zusammenstellte. Dabei ging es aber nicht allein um den Sieg, wie Wegmann erklärt: «Wir hätten auch einfach mit sehr viel Spass fahren und dafür ausgewählt werden können. Aber wir gewannen sogar und im April vergangenen Jahres kam dann die schöne Nachricht.» Für Judith ist das «eine Riesenehre» und sie fügt verschmitzt an: «Dafür ist es auch okay, in den engen Rennanzug zu schlüpfen, obwohl ich das eigentlich gar nicht mag.»

Der Sieg war eine Überraschung, wie Kurt Fedier berichtet: «Da gibt es ja dann Skifahrer, die im Gegensatz zu Judith sehen können und auch teilweise trainierter sind.» Denn an den Special Olympics gibt es keine extra Kategorie für Sehbehinderte, wie das bei den Paralympics der Fall ist. «Und das macht es für Judith eigentlich schwerer», meint Kurt Fedier und fügt an: «Denn nicht viele Blinde können so toll Skifahren wie sie.»

Für Judith Wegmann sind die Special Olympics jedoch der richtige Weg: «Bei den Paralympics hätte ich einen viel grösseren Leistungsdruck, und das könnte ich nicht.» Für die Special Olympics kann sie sich frei fühlen, in ihrem eigenen Tempo zu trainieren. Dieser starke Wille zur Selbstbestimmung ist für sie auch die grosse Motivation beim Skifahren: «Ich mag es, allein so schnell sein zu können. Es gibt keinen anderen Sport, in dem mir das möglich ist.»

Mut und Vertrauen

Die Augen schliessen bei rasanter Abfahrt auf der Piste, das kostet die meisten Sehenden wahrscheinlich einen irrsinnigen Mut. Judith Wegmann ist mit Sicherheit eine mutige Frau: Schon mit drei Jahren, damals noch mit 10 Prozent Sicht, lernte sie Ski zu fahren und nahm dafür viele Stürze in Kauf. Danach gefragt, wie das jetzt mit den Unfällen sei, schaut Kurt Fedier plötzlich ernst und antwortet: «Nein, mit mir hatte Judith noch nie einen und das ist auch wichtig für unser Vertrauen.» Und so braucht Judith Wegmann dank dem «blinden» Vertrauen, das zwischen ihr und Kurt Fedier herrscht, heute vielleicht gar nicht mehr so viel Mut.

Das ist spürbar, wenn sie mit grossem Nachdruck betont: «Kurt schaut wirklich gut auf mich. Er drückt nie, sondern fährt mit mir in meinem Tempo. Mit ihm konnte ich anfangen, wirklich an meiner Technik zu arbeiten, sodass ich jetzt sogar carven, also nur auf der Skikante stehen kann, was als Blinde wirklich schwierig ist.»

Doch so leicht, wie es heute wirkt – Judith Wegmann kennt die Piste in- und auswendig und traut sich sogar der Autorin nachzufahren, der sie dann noch die Richtungen angibt –, war es nicht immer. «Früher hatte ich manchmal auch Angst. Einmal musste eine Trainerin mir stundenlang erklären, was sie sieht und dann mit mir zu dem beschriebenen Baum gehen, damit ich vertrauen konnte.» Dank dem Skifahren konnte sie das überwinden: «Stürzen und wieder aufstehen, das habe ich auch für den Alltag gelernt.»

Schokolade, Oktopusse und selbst gebastelte Rollen

Und so lacht sie dann einen kleinen Sturz –  vermutlich verursacht, weil die Autorin zuvor viel zu langsam für die Rennfahrerin fuhr – einfach weg: «Der zählt doch gar nicht, es war ja quasi Absicht.» Kurt Fedier schaut ein wenig streng und meint: «Dafür musst du jetzt einen Kaffi ausgeben.»

Zum Kaffee hat sie seine Lieblingsschokolade «kinder»-Riegel dabei und betont: «Ich habe immer eine Packung für Kurt im Kühlschrank.» Und Kurt Fedier montiert ihr am Ende des Skitages – bevor er sie in den Zug setzt – noch selbst gebastelte Rollen an die Rennski, damit Judith Wegmann die Ski hinter sich ziehen kann und so ohne einen «liebe Mobiliar»-Unfall heimkommt.

So eingespielt wie die beiden sind, teilen sie auch ihre Einstellung zu dem aufkommenden Wettbewerb, wie Wegmann erklärt: «Uns persönlich ist die Aufmerksamkeit egal, aber die Special Olympics bekannter zu machen, das liegt uns am Herzen.» Denn im Gegensatz zu den Paralympics gibt es noch keine Fernsehübertragung und auch finanziell stehen die Sportler und Sportlerinnen auf eigenen Beinen, denn die Stiftung Special Olympics bekommt keine Subventionen. «Für uns funktioniert das nur, weil uns ein Urner Skigeschäft unterstützt», wie Kurt Fedier meint.

Was aber wirklich wichtig ist, drückt ein Oktopus aus, der im Auto von Kurt Fedier liegt. Judith Wegmann hat ihn gehäkelt, weil sie meint: «Oktopusse wurden lange für dumm gehalten, weil sie so ein kleines Hirn haben. Bis Forschende dann verstanden haben, dass sie in jedem Tentakel Gehirnzellen haben und unheimlich intelligent sind. Niemand sollte so vorverurteilt werden.»

Was aber wirklich wichtig ist, drückt ein Oktopus aus, der im Auto von Kurt Fedier liegt. Judith Wegmann hat ihn gehäkelt, weil sie meint: «Oktopusse wurden lange für dumm gehalten, weil sie so ein kleines Hirn haben. Bis Forschende dann verstanden haben, dass sie in jedem Tentakel Gehirnzellen haben und unheimlich intelligent sind. Niemand sollte so vorverurteilt werden.»